Das Haus von Itsche stand ideal für ihre Absichten im Leben. Nämlich, Menschen nicht nur zu beobachten, sondern zu kontrollieren, am liebsten jede Sekunde ihres Lebens. Und das, ohne gesehen zu werden. Wie das möglich sein konnte?
Ganz einfach. Das alte Haus, in dem sie alleine wohnte, nachdem ihr Mann ihr schon vor Jahren in die Ewigkeit vorangegangen war, lag am Ende einer Sackgasse. Nicht rechts und auch nicht links. Sondern am Kopfende. Und das Kopfende lag um einige Meter höher als alle anderen Häuser in derselben Strasse. Und die Fenster zur Strasse waren insgesamt sechs. 2 jeweils vom EG bis zum 2. Stock.
Itsche war enorm. Nicht einfach nur dick. Aber sie bewegte sich mit einer Eleganz, die an eine Schlittschuhläuferin in Zeitlupe erinnerte. Sie ging nicht über die Strasse, sie schwebte – oder eigentlich glitt sie einher. Langsam, bedächtig und vor allem geräuschlos. Aber bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, dass ihre kleinen blitzenden Kirschäuglein rasend schnell von rechts nach links huschten, in der Hoffnung ein „Opfer“ zu finden. Jemand, den sie zum Innehalten hätte überreden können. Jemand, den sie erbarmungslos mit ihren Geschichten hätte zuschütten können. Ob im Sommer bei über 30°C, oder im Winter bei minus 10°C. Und bei den dazwischen liegenden Temperaturen war es noch gefährlicher.
Ob ich was gegen Itsche habe? Wie kommen Sie darauf? Andere hatten Probleme mit ihr. Eigentlich alle in der Strasse. Sogar im ganzen Viertel und darüber hinaus. Sie hatte sozusagen einen Ruf … Keiner wollte sich mit ihr „abgeben“.
Und ich? Ich fand dieses Verhalten der anderen extrem ungerecht. Ich war nämlich immer bereit, für Minderheiten und Outlaws in die Bütt zu gehen. Also schlug ich mich aus Prinzip auf ihre Seite. Und was brachte es mir? Zuerst nur, dass ich bei all den anderen verschissen hatte. Obwohl mich niemand von denen kannte. Ich war doch selbst ein Fremder.
Wann es genau anfing, dass Itsche mich mit Liebesbeweisen der absurdesten Art heimsuchte, kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Erst harmloses Geplänkel, dann die Zeit der Hausmannskost. Und irgendwann stand sie im Hausflur und wollte Blumen giessen oder putzen helfen. Wie sie es geschafft hatte, sich einen Zweitschlüssel zu meiner Wohnung zu verschaffen, bleibt ebenso ein Rätsel, wie ihr Auftauchen, im wahrsten Sinne des Wortes, in MEINER randvoll mit Seifenschaum gefüllten Badewanne.
Zum ersten Mal, seit ich in diese Strasse gezogen war, fing ich an, die Nachbarn zu verstehen. Und es ist mir sehr wichtig zu sagen, dass ich schon oft umgezogen bin in meinem Leben. Nicht immer freiwillig. Und nicht immer an die schönsten Orte. Aber in dieser Strasse fühlte ich mich wohl. Hier wollte ich bleiben – wenn nicht für immer, dann doch einige Jahre. Bäume säumten die Bürgersteige und Rosen rankten an den bunten Hausfassaden. Sogar die Hundebesitzer waren respektvoll.
Nur Itsche nicht!
Und so wuchsen langsam, ganz langsam auch in mir der Wunsch und das unmögliche Verlangen: Itsche musste weg, egal wie …