Eine Stunde vor dem Spiel England./.Deutschland. Trotz allem, trotz Jogi und dem DFB und trotz der Enttäuschungen und schlechten Spiele in den letzten Jahren wünsche ich mir sehr, dass „wir“ gewinnen. Da ist es auch egal, dass ich den grössten Teil meines Lebens im Ausland gewohnt und gearbeitet habe; sogar unser Jüngster, in England mit einer Engländerin verheiratet, ist und bleibt Fan der deutschen Mannschaft.
Da muss doch etwas sein, was man nicht rational begründen kann, auch gegen so viele gute Gründe, siehe oben. Ich habe auch nichts gegen England, bis auf Boris und seinen Brexit. Fühle ich also doch so etwas wie Heimat, Nationalstolz? Darüber denke ich gerade nach.
Ein kluger Franzose hat einmal gesagt, das deutsche Wesen liesse sich mit zwei Wortpaaren zusammenfassen: „Entweder – oder“ und „Wenn schon – denn schon“. Das habe ich direkt verstanden, und irgendwie entspricht das auch meiner Einstellung. Da ist soviel Wunsch nach Ausschliesslichkeit, Bedürfnis an Klarheit und am Ende Konsequenz drin. Das ist doch eigentlich löblich, oder?
Hier kommt aber mein Problem: Wie können diese Eigenschaften überleben in einer Zeit, in der der Zweifel herrscht? In der die Menge an Informationen und Meinungen dazu führt, dass alles wahr ist und auch das Gegenteil? Sie wollen wissen, wie man einen Hundewelpen erzieht (unser aktueller Fall)? Ganz einfach. Internet, Bücher und Experten wissen das: Durch Liebe und Strenge, durch Härte und Bestechung, durch Geduld und schnelles Durchgreifen. Oder Corona: Ist es die grösste Pandemie seit Menschengedenken oder eine Verschwörung gegen unsere Grundrechte? Unsere TV-Journalisten können das auch: Erst wird ein neues Gesetz vorgestellt, und dann sehen wir jemanden, der/die uns erklärt, was für ein Quatsch das alles ist. Ich zitiere eine Nachrichtensprecherin am Ende einer Meldung: „Aber es gibt auch Kritik gegen dieses Gesetzesvorhaben.“ Na, toll, dann wissen wir ja Bescheid.
Aber wie verträgt sich das mit unserer so deutschen Sehnsucht nach Klarheit? Eben gar nicht, und jetzt komme ich auf meinen Punkt: Wir Deutschen müssen uns entweder entscheiden, oder lernen, mit Unsicherheiten zu leben und umzugehen. Zweifel können auch der Anfang eines Nachdenkens sein, eines In-Frage-Stellens, und dann vielleicht sogar einer Idee, eines Plans, eines Wegs. Zweifel können auch Kreativität fördern: Wie kann ich das schaffen? Wie besser machen? Aber das dann auch richtig, eben „wenn schon – denn schon“. Und nicht irgendwelchen Rattenfängern hinterherlaufen, die aus der allgemeinen Verunsicherung ihr Süppchen kochen wollen. Sondern sich die Infos anschauen, selbstständig nachdenken und für sich entscheiden, was man glauben will. Und danach handeln.
Ja, das ist schwer. Veränderungen sind so schwer. Aber was bleibt uns übrig, wenn sich um uns herum schon so viel verändert hat und noch ändert.
P.S. Gerade ist das Spiel zu Ende gegangen: 2:0 für England. Mal verlieren kann man immer, aber irgendwie passt das „wie“ zu meiner These. Seit dem blamablen Ausscheiden bei der letzten WM hatte sich bei der deutschen Nationalmannschaft NICHTS geändert. Immer noch der gleiche Schlafwagenstil, Quer- und Rückpässe ohne Ende, im Grunde ein negativer, um nicht zu sagen feiger Fussball.
Damalige Reaktion des DFB: Erst mal die Verträge mit den Verantwortlichen verlängern und dann eventuell sehen, was man (wer denn?) ändern könnte. Das Ergebnis haben wir gerade gesehen.
Und der Grund: Vor allem, und immer wieder, das Festklammern am Bestehenden („Das haben wir schon immer so gemacht.“), das Verdrängen des Zweifels, die Unfähigkeit zur Veränderung.
Der Fussball als Spiegelbild der (deutschen) Gesellschaft? Unbedingt.