Aus Mooords-Geschichten, Band 1

Irgendwo im Elsass, April 2020

„Das kannst du nicht machen!“

„Und warum nicht?“

„Da fragst du noch? Hast du denn gar kein Gewissen?“

„Warum sollte ich? Nicht bei dem …“

„Was du vor hast, ist …“

Iris suchte verzweifelt nach Worten. Aber sie war zu schockiert über das, was er ihr gerade ins Ohr geflüstert hatte. Sie konnte nicht weiter neben ihm liegen bleiben, stand auf, streifte sich sein T-shirt über und zündete zwei Zigaretten an.

Nach dem ersten Lungenzug fiel ihr nichts besseres ein als:

„Es ist krank – einfach krank. Das gerät ausser Kontrolle. Und das weisst du ganz genau. Und deswegen sage ich es nochmal. Es ist krank, nein, du bist krank … Au, lass mich los, du tust mir weh. Ich hab gesagt, du sollst mich loslassen. Ich schreie … “

„Sag das nie wieder zu mir. Hast du gehört? Nie wieder!“

Iris wusste, wie er tickte und dass sie jetzt besser den Mund halten sollte. Aber recht hatte sie trotzdem. Es war krank. So was von … Nur, weil er seinem Onkel nach so viel Jahren den Garaus machen wollte, das Leben von so viel anderen, unschuldigen, Menschen mitzugefährden. Verrückt, einfach nur verrückt. Sie musste was tun. Sie kannte Antonio mittlerweile so gut, dass sie wusste, er würde nicht nur davon reden. Er würde es tun. Und auch nicht lange warten. Sobald sie wieder alleine wäre, würde sie seine Therapeutin anrufen. Die wüsste bestimmt, was zu tun wäre. Vielleicht wieder Tabletten? Im Notfall wieder in die Klinik?

„Was ist los, was schaust du so hinterhältig, du denkst an irgendwas? Wenn du die Polizei rufst, dann …“

Aber Iris liess ihn nicht ausreden. Sie drückte ihm ihre schmalen Lippen auf den Mund, nahm seine Hand und legte sie wieder auf ihre Brust. Das funktionierte eigentlich immer.

„Du willst mich nur ablenken. Ich kenn dich doch, meine liebe kleine Iris. Ich hab in 10 Jahren angewandter, hautnaher Therapie mehr gelernt als du in zwei Jahren theoretischer Psychologie … „

Er lachte sie an. Dieses breite hämische Lachen, das seine strahlendweissen Zähne immer bis aufs Zahnfleisch entblösste.

Aber er nahm sie trotzdem bei den Schultern, erwiderte inbrünstig ihren Kuss und zog sie wieder ins Bett. Aber jetzt wollte sie nicht mehr. Nicht, nachdem er sie so durchschaut hatte.

+ + +

Sie hatte ihn vor knapp einem Jahr im Supermarkt bei ihr um die Ecke entdeckt. Er fiel ihr sofort auf. Er sah einfach toll aus. Mittelgross, Dreitagebart, eine Brille wie Bertolt Brecht, lässige Jeans und Designerhemd, braungebrannt und dann das Interessanteste: Die Tattoos am Auge. Noch am selben Abend hatte sie sich schlau gemacht im Internet:

Hat jemand mehrere Tränen am Augenwinkel tätowiert, stehen sie für die von ihm begangenen Morde oder die Anzahl der Inhaftierungen. Eine einzelne Träne kann auch für die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen stehen und für die Absicht, diesen zu rächen – oder dafür, dass man schon zehn Jahre inhaftiert ist.

Daraus machte sie sich ein erstes Bild. Es beflügelte ihre Phantasie. Sie musste ihn unbedingt wiedersehen. Diesen männliche Geruch einatmen ; das war nicht nur Aftershave. Das waren Kraft und Mut. Muskeln wie Drahtseile. Und dann der Blick, der sie fast durchbohrt hätte. Vielleicht war es ja auch nicht so clever von ihr gewesen, sich die Sachen in seinem Einkaufswagen so genau anzuschauen. Diskret war echt anders. Aber es hatte sich gelohnt. Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist … Oder so ähnlich geht doch der Spruch. Auf jeden Fall waren es wichtige Elemente, um ihr Bild zu vervollständigen. Und sie wusste heute noch genau, was im Korb lag: Eine Unmenge von dem selben tiefgefrorenen Fertiggericht (Hähnchen Curry), drei Flaschen roten Vacqueyras, sechs Flaschen Louis Roederer Brut, ein Sixpack dunkles Leffe, mindestens sechs Packungen Toilettenpapier und sechs Gläser von dieser sündhaft teuren Foie Gras aus dem Perigord.

„Stimmt was nicht, oder warum starren Sie so in meinen Einkaufswagen …“.

Er war blitzschnell neben ihr aufgetaucht. Dabei hatte sie doch so gut aufgepasst. Und gesehen, wie er sich ein Ticket am Käsestand gezogen hatte.

Sie kam sich vor wie ein kleines Kind, das gerade beim Naschen erwischt wurde. Und sicherlich war sie auch puterrot angelaufen. Sie spürte die Hitze bis in die Haarwurzeln.

Er blitzte sie wütend an mit diesen grünblauen Augen. Solche hatte sie ja noch gar nie gesehen. Und dazu dieses tolle abweisende Gehabe. Da wusste jemand sich zu verteidigen. Toll, was für ein Mann!

Sie stammelte sich ein triviales „Sorry, ich such‘ meinen Wagen …“, zusammen und verschluckte vor Aufregung den Rest. Als er schon längst kopfschüttelnd und irgendetwas Unhöfliches grummelnd an der Kasse stand, sagte sie mit Tränen in den Augen:

„Nichts für ungut. Ich wünsche Ihnen auch einen schönen Abend …“

+ + +

Er wusste heute noch nicht, warum er damals, als er das dritte, oder war es das vierte Mal, im Supermakt über sie gestolpert war, die Einladung auf einen Drink angenommen hatte.

Okay, sie sah ganz sexy aus. Hatte diesen schönen, nicht zuviel, nicht zu wenig Busen. Statt Jeans, wie fast alle in ihrem Alter, trug sie meist kurze farbenfrohe Röckchen und ein T-Shirt, das den Blick vorne auf den Bauchnabel frei liess und, sobald sie sich umdrehte, auf das Tattoo am Rücken. Den kleinen scharlachroten Skorpion, genau am untersten Ende ihrer kerzengeraden Wirbelsäule. Gerade so, als wolle er sich durch ihre Unterwäsche und zwischen die zwei drallen Pobacken zwängen.

Er hatte sofort so ein komisches Gefühl. Fand sie aufreizend. Vorwitzig. Indiskret. Aber trotzdem gefiel sie ihm. Er öffnete schliesslich nicht für jeden seinen Lieblingschampagner. Und schon gar nicht eine Foie Gras. Aber sie war so – ja was – sensationslüstern; genau, das war sie. Sensationslüstern. Und zwar auf alles: Alles zu essen, alles zu trinken, alles von ihm. Und bei der zweiten Flasche Champagner erzählte er ihr nicht nur, dass er sieben Jahre in der berühmt-berüchtigten Engelmann-Strasse in Strassburg abgesessen hatte. Sondern auch, warum: Seine schwere Kindheit. Sein Jähzorn. Seine gefährliche Linke. Ein Haken, und sein Gegenüber war platt. Nicht nur einmal. Und auch, dass er weder rassistisch noch sexistisch war. Er schlug halt nur gerne zu: ob schwarz, ob weiss, ob Mann oder Frau. Bei ihm hatten sie alle die selbe Chance!

Das Tolle war ja auch, dass diese Iris gar nicht schockiert war. Dieser Blick. Die himmelte ihn an, um so mehr er erzählte. Also gab er ihr weiter Stoff. Und damit bekam er sie sogar ins Bett. Die war richtig geil auf harte Typen. Er brauchte sich nicht zu schämen, geschweige denn zu verstellen, wie sonst bei Frauen; sogar denen, die er bezahlte. Egal!

Schlimm wurde es ja erst, als er ihr von seinem Onkel Claude, dem Arschloch, erzählte und was er mit ihm vorhatte. Das hätte ihm nicht passieren dürfen. So die Hosen runterzulassen und das Intimste seiner Welt preiszugeben: Nämlich, dass dieses Schwein von Claude seine Mutter vergewaltigt hatte. Er war wohl schon immer scharf auf sie gewesen und als papa damals mal wieder unterwegs war, wie so oft, hatte er sie … er konnte es heute noch nicht aussprechen. Warum war papa auch so oft weg? Staubsaugervertreter. Was für ein Scheissjob war das denn? Und maman, die hatte nichts gesagt. Erst auf dem Sterbebett. Und das Schlimmste für IHN war nicht einmal, dass Claude sie danach immer wieder vergewaltigt hatte. Das war schlimm für SIE. Nein, das Schlimmste für Antonio war, das ausgerechnet dieser Arsch sein leiblicher Vater war und er seine Gene geerbt hatte. Papa musste es irgendwann rausgefunden haben. Alles. Das war nun schon 10 Jahre her. Danach gab er sich den Strick. Aber damals hatte Antonio noch nix kapiert. Erst seit drei Monaten. Erst seit maman tot war. Dieser leere Blick. Diese schon immer toten Augen. Jetzt waren sie für immer zu. Heute wusste er endlich, warum alles so schlimm war. Und warum er so geworden war, wie er ist. Da nutzte auch all das viele Geld nicht, das Claude ihm schon vor Jahren überschrieben hatte. Dieser Scheisskerl. Dieses Stück Dreck.

Aber heute wusste er, was noch zu tun war. Ein letzter Liebesbeweis für seine Mutter, die ihm zu Lebzeiten keine Liebe geben konnte. Weil sie ja schon viel früher gestorben war. Nur hatte es damals niemand gemerkt.

+ + +

L’Est Republicain, 24. April 2020:

Schon wieder Corona-Tote in einem Pflegeheim! In der gestrigen Ausgabe berichteten wir von Sterbefällen in einem Seniorenheim in Mulhouse; und heute erfahren wir von dem bisher schwersten Corona-Fall im Elsass: In einem Seniorenheim in Strassburg sind 29 Personen in Verbindung mit dem Virus gestorben. Nach unseren Recherchen handelt es sich um 21 Heiminsassen, 3 Pfleger, 3 Krankenschwestern, einen Seelsorger und eine Person der Heimleitung. Es wird im Moment davon ausgegangen, dass der Virus von aussen in das Heim hineingetragen wurde.

Iris legte mit zitternden Händen die Tageszeitung aus der Hand und versuchte, ihre Beherrschung nicht ganz zu verlieren. Jetzt nur kein falsches Wort sagen. Und sie liess ihn reden.

„Was regst du dich denn auf? Es konnte überhaupt nichts schief gehen. Und die Kollateralschäden sind auch nicht schlimm. Es gibt bestimmt wieviel Alte, die hätten mir sogar noch Geld für Sterbehilfe gegeben. Schade, dass ich daran nicht früher gedacht habe …“.

Er versteckte noch nicht mal sein zynisches Lachen und bot ihr eiskalt eine Zigarette an.

„Du hast also …. ein Päckchen … mit Coronavirus infiziertem Inhalt … deinem Onkel ins Altenheim geschickt. Einfach so? 29 Menschen tot! Das sind zig Tote, die nichts mit deiner Familiengeschichte zu tun hatten. Du bist, du bist … ja, du bist wahnsinnig.“

Kaum war das Wort über ihre Lippen, spürte sie den brennenden Schmerz seiner mit voller Kraft geschmetterten Ohrfeige. Sie fiel sofort zu Boden. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie schmeckte warmes Blut auf ihren Lippen und im Mund. Dann ging alles sehr schnell: Sie griff um sich, ohne genau zu sehen, wonach. Der erste feste Gegenstand, der ihr in die Finger kam, war der Schürhaken. Und damit schlug sie zu. Zuerst in alle Richtungen. Dann gezielt. Nicht einmal. Nein, sie schlug und schlug und schlug. Immer und immer wieder.

+ + +

L’Est Republicain, 11.7.2029

Iris Lemaire, die französiche Antwort auf Frida Kahlo:

Zum ersten Mal seit ihrer achtjährigen Gefängnisstrafe wird die Künstlerin Iris Lemaire heute anlässlich ihrer diesjährigen Vernissage „Bis auf den Grund der Dinge“ persönlich anwesend sein. Viele von Ihnen werden sich an das tragische Schicksal dieser Frau noch erinnern, die vor acht Jahren ihren Liebhaber auf brutalste Art erschlagen hatte. Danach nie wieder redete und während ihrer Gefängnisstrafe so ausdrucksstarke Bilder gemalt hat, die in kürzester Zeit internationale Anerkennung fanden. Schon ihre Anfangswerke wurden von Kunstexperten mit der Technik und Aussagekraft der mexikanischen Ausnahmekünstlerin Frida Kahlo verglichen. Bei beiden Frauen geht es hauptsächlich um den Kampf mit ihrem Leiden, dem körperlichen Schmerz, und bei Iris Lemaire ganz besonders dem seelischen. Im Unterschied zu Frida Kahlo hat sich Lemaire in den letzten Jahren nicht nur ihrer eigenen Geschichte, sondern der ihrer Mit-Arrestantinnen gewidmet.

Nach dem ersten Bilderzyklus „Abgründe“, der sie zu nationalem Ruf brachte, kam jedes Jahr ein Neuer hinzu. Ihre Werke werden am Kunstmarkt hoch gehandelt.

Vernissage 11.7.2029, 19h, Galerie du Marais, 21 Place des Vosges, 75003 Paris

+ + +

„Mademoiselle Lemaire, darf ich Ihnen eine indiskrete Frage stellen? Sie haben sich heute zum ersten Mal nach vielen Jahren in Worten ausgedrückt und nicht „nur“ in phantastischen Bildern. Ich darf sicherlich im Namen aller Anwesenden und auch meiner Journalistenkollegen sagen, wie sehr es uns gefreut hat, ihre persönlichen Ausführungen zu den Werken zu hören. Jedes ihrer Bilder spricht für sich und lässt tiefe Einblicke in die Seelen der Menschen zu. Sie führen uns nicht nur zur Tat, sondern auch zum Grund jedes einzelnen Gewaltverbrechens. Und obwohl doch immer ganz schreckliche Geschichten dahinter stehen, wie wir jetzt von Ihnen erfahren haben, benutzen Sie meistens kräftige, helle und, man kann fast sagen, positive Farben, statt, wie man vermuten könnte, dunkle, wie bei Francis Bacon und anderen. Bis auf ein Gemälde, das auch von der Geschichte gar nicht zu den anderen Werken von Ihnen zu passen scheint.

Ich meine das, das auf ihren ausdrücklichen Wunsch, wie ich von ihrer Agentin gehört habe, in jede ihrer Vernissagen in den letzten Jahren integriert wurde, aber unverkäuflich ist. Das ganz hinten in der Ecke. Das mit dem Titel:

29 auf einen Streich.

Das war doch kein Gewaltverbrechen… War das nicht Corona?“

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